Vielleicht bringt der Sommer etwas Abkühlung. Das klingt paradox,
aber dafür ist der Sommer da. Einfach mal ein paar Wochen nicht aufgeregt und gestresst, nicht genervt und aggressiv sein. Seit vielen Monaten jagt eine Aufgeregtheit die nächste, und die Coronapandemie hat alles nochmal schlimmer gemacht.
Neulich, zum Beispiel, rief ein Freund aus alten Tagen an. Es war Sonntagmittag, ich habe Kartoffeln geschält. Alles ganz privat und entspannt. Der Freund – lange nicht gehört – wollte eigentlich nur von einem Buch schwärmen, das er herausgegeben hat. Ein Plädoyer für Freiheit und die Neutralität des Staates. Gute Sache eigentlich. Doch irgendwie ist der Freund in Rauflaune.
Er kann gut polemisieren, und das ist auch nicht schlimm, wenn man drauf eingestellt ist und es sportlich nimmt. Er sagt nicht nur, dass Staat und Kirche noch strikter getrennt sein sollten und dass Religion nichts in der Politik zu tun habe. Kein Problem, dafür gibt es gute Argumente.
Doch sehr schnell artet das Ganze aus in eine wüste Schimpferei auf Kirche und Religion. Wenn Du darüber diskutieren willst, sagte ich, müsstest Du unterscheiden zwischen “Gott” und “Kirche”. Denn für einen gläubigen Menschen sei Gott ja schlichtweg da, und zwar überall. Ein Christ kann demzufolge zwar die Trennung von Kirche und Staat gut finden, die Trennung von Gott und Politik aber schlichtweg für undenkbar halten.
Der Freund schimpfte, Religion sei Kinderkram, die katholische Kirche sei eine Ansammlung von homophoben Spießern, von verklemmten Sexualstraftätern. Mein vorsichtiger Einwand, dass “Kirche” doch etwas vielgestaltiger sei, führte zu einer Kanonade von Beschimpfungen.
Das war eine verstörende Erfahrung in einer Zeit, in der intensiv über Diskriminierung diskutiert wird. So schnell kann es gehen, dass man ausschließlich als Teil einer Gruppe wahrgenommen wird. In diesem Fall: Ich arbeite seit einiger Zeit unter dem Dach der Kirche, also bin ich ein “Kirchenmann” und werde in Sippenhaft genommen. Provokation, sagte der Freund noch, bevor er das Gespräch beendete, sei wichtig für einen lebendigen und konstruktiven Meinungsaustausch. Aber wie soll ein Leben in Freiheit funktionieren, wenn die wichtigste Voraussetzung dafür fehlt: Respekt.
Respekt ist das Zwillingswort zu “Würde”. Das steht am Anfang unserer Verfassung: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Bevor wir uns einzelnen Freiheitsrechten (und manchen Verpflichtungen) zuwenden, sollten wir uns immer diesen ersten Satz unseres Grundgesetzes vor Augen führen. Er steht vor und über allem.
Eigentlich macht mich immer wieder die entgegengesetzte Seite des politischen Spektrums wütend oder traurig. Jene, die gegen Flüchtlinge polemisieren und laut klatschen, wenn es heißt: “Ausländer raus!” Ich habe als Journalist etliche Veranstaltungen besucht, in dem der Dumpfsinn zur Grundmelodie wurde. Aber auch offenkundig feinsinnige Menschen klatschten dazu. Auch ein Mensch aus meiner Kirchgemeinde. Ein Mann, der sympathisch aussieht, der nett und liebevoll zu Frau und Kindern zu sein scheint. Lange schon nehme ich mir vor, auf ihn zuzugehen: Warum engagieren Sie sich für autoritäre, fremdenfeindliche, intolerante Politik?
Seit Jahren beobachte ich mit Sorge, wie es immer schwieriger wird, Brücken zwischen den Menschen zu sehen oder neu zu bauen. Die Radikalisierung der Gesellschaften in unserer Welt macht mir Angst.
In guten Momenten sage ich mir: Es ist eigentlich ganz einfach; wir müssen nur den Fokus neu ausrichten. Nicht auf irgendwelche Teilmengen, die heute als “Identität” verhandelt werden. So wenig wie der Mensch sich auf seine sexuelle Orientierung oder sein geschlechtliches Selbstbewusstsein reduzieren lässt, sowenig lässt er sich auf andere Merkmale einengen: farbig, hellhäutig, arbeitslos, erfolgreich, links, rechts, behindert oder top fit, fromm, ungläubig… Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Wenn wir uns zwei Worte ins Bewusstsein rufen, kommen wir schon weiter: Würde, Mensch. Menschsein heißt immer, einzigartig und vielschichtig zu sein; voller Begabungen und Fehler, Hoffnungen und Ängste. Wenn wir einander in diesem Bewusstsein begegnen und in die Augen schauen, ist viel erreicht.
Vielleicht kühlt ein schöner Sommer die Gemüter.
Frank Seibel,
Leiter des Sankt-Wenzeslaus-Stifts in Jauernick-Buschbach
Der Beitrag ist zuerst im Schöpsboten, Ausgabe August 2020, erschienen.
Siehe auch:
Offene Gesprächsrunde: Woran können wir noch glauben?
am Mittwoch, 30. September 2020, 19.30 Uhr,
in der ehem. Gaststätte “Zur Brauerei”,
Am Schöps 3, 02829 Markersdorf